Es mag sehr pathetisch klingen, aber an die ersten Minuten nach meinem Zusammenbruch kann ich mich nicht mehr erinnern. Um mich herum war alles dunkel, farblos, kontrastlos, dumpf und neblig. Es war ein wenig wie bei Harry Potter, wenn er Voldemort gegenüber stand, alle Kraft schien aus mir entwichen zu sein, ich war nur noch eine leere Hülle, und mir war alles scheissegal. Wenn mich in dem Moment jemand zusammengeschlagen hätte – egal. Wenn mich jemand von einer Brücke oder vor einen Zug gestoßen hätte – egal. Ich fühlte mich vollkommen wertlos und tot.
Doch irgendwann nahm ich wieder Farben wahr, Kontraste, spürte die Wärme der Sonnenstrahlen, roch den Duft der Gräser, ich vernahm Stimmen, die mit mir sprachen, und ich verstand, was sie sagten: „Anna, hey, komm wieder zu dir!“ – „Anna, das war absolut mies, das hast du nicht verdient!“ – „Anna, lass mich dir helfen!“ – „Anna, das tut mir so leid!“. Irgendjemand hatte ausserdem unserer Klassenlehrerin Frau Dietmüller Bescheid gesagt, und meine Freundinnen brachten mich zum Lehrerzimmer. Auch wenn ich rein physiologisch wieder klar sehen, hören, riechen und denken konnte, lief alles wie ein Film ab, in knalligen Farben, mit wackeliger Kamera, der Autofokus versagte und ich konnte Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden. Mir was bis dahin noch nie aufgefallen, dass im Flur zwischen dem Nebeneingang und der Aula andere Fliesen lagen als in allen anderen Fluren. Oder dass in der Aula vor dem Lehrerzimmer ein Feuerlöscher an der Wand hing. Dafür kann ich mich weder an Details meines Gesprächs mit Frau Dietmüller erinnern, noch daran, wie lange wir hinterher beim Schulleiter saßen, der mindestens ebenso erschüttert war wie meine Lehrerin. Ich hatte Herrn Panzke bis dahin immer für einen farb- und empathielosen Anzugträger gehalten, der nur ausgewählte Klassen der Oberstufe unterrichtete und ansonsten hinter drei verschlossenen Türen in seinem Zimmer saß wie ein Eremit auf seinem Berggipfel. Doch er entpuppte sich als großartiger Mensch, der mir aufmerksam zuhörte und mir tief in meinem Inneren das Gefühl gab, ab jetzt könnte mir in seiner Schule nie wieder etwas Böses zustoßen.
Leon wurde für den Rest der Woche suspendiert, seine Eltern mussten ihn abholen. Ich sah ihn im Sekretariat sitzen, er war blass um die Nase und wirkte geschockt, entweder hatte er nicht damit gerechnet, dass seine geisteskranke Aktion mich so stark treffen würde, oder dass er so schnell und nachhaltig die Konsequenzen dafür tragen müsste. Nicht dass ich ihn bedauerte; ich hatte genug mit mir selbst zu kämpfen. Aber mein Unterbewusstsein stellte spontan einen Vergleich zum Handball an: Wenn man rüde gefoult wird und am Boden liegt, der Schiedsrichter aber nicht sofort eingreift, dafür aber die Fans des gegnerischen Teams jubeln und johlen, zweifelt man auch gelegentlich an der Gerechtigkeit auf der Welt. Hey, Schiri, pfeif ab, die hat mich umgenietet! Doch manchmal wird nicht gepfiffen, das Spiel läuft weiter, und die Gegnerin grinst einen triumphierend an. Die Revanche, die man sich sehnlichst wünscht, geht allerdings meistens schief – die eigenen Fouls werden immer gepfiffen, egal wie clever man sich anzustellen meint. Doch in diesem Fall wurde das Spiel tatsächlich abgepfiffen, das Foul war mehr als nur rüde, es war beabsichtigt gewesen und rücksichtslos. Der Gegenspieler wurde vom Platz gestellt, und selbst wenn ich das Spiel verloren hatte – es würde ein nächstes Spiel geben.
Und ich merkte, dass ich viele Fans hatte. Nicht nur Frau Dietmüller und Herr Panzke, nicht nur meine besten Freundinnen und meine Eltern, sondern auch fast meine gesamte Klasse standen zu mir. In der Schule hatten wir nach ein paar Tagen eine Veranstaltung zum Thema „Mobbing“, und Leon wurde verpflichtet, an einem entsprechenden Einzelgespräch teilzunehmen. In der kommenden Woche entschuldigte er sich tatsächlich bei mir, und selbst wenn er nicht mehr ganz so blass und geschockt wirkte, hatte ich den Eindruck, dass er das so ernst meinte, wie es ihm möglich war. Er war halt nur ein Junge, störend, nervig, pickelig, grob, unhöflich, langweilig, plump, hässlich, dumm und uninteressant – kurz: überflüssig.
Ein paar Tage später beim Frühstück löffelte ich grübelnd mein Müsli mit Bananen und Joghurt. Meine Eltern beobachteten mich aufmerksam, sagten aber nichts – sie kennen mein Nachdenkgesicht, und auch wenn sie mit mir gemeinsam sehr unter Leons Angriff auf mich gelitten hatten, spürten sie offensichtlich, dass meine Gedanken in diesem Moment nicht um etwas Negatives kreisten. Und sie sollten recht behalten. Mein Unterbewusstsein hatte soeben erfolgreich den Zusammenhang zwischen einem absichtlichen Foul beim Handball und Leons Mobbing an mein Bewusstsein weitergeleitet.
Kaum hatte sich der Gedanke aus dem Nebel in die Sonne gedrängt, sagte ich mit vollem Mund und vollem Ernst: „Ich hör doch nicht mit dem Handball auf.“
Meine Mutter verschluckte sich fast an ihrem Kaffee, mein Vater hörte auf, an seinem Toastbrot weiterzukauen und starrte mich mit halboffenem Mund an.
„Oh, Papa, bitte, Du hast den Mund voll!“, lachte ich.
Er kaute fertig, schluckte den Bissen herunter und meinte: „Ach?“
„Beim Handball kann ich die Sau rauslassen. Und was fürs Leben lernen.“
„Oh, okay … Aber nicht dass Du jemanden ernsthaft verletzt!“, grinste meine Mutter.
„Keine Angst, aber ich weiß, dass ich für die Mannschaft wichtig bin, so wie Handball für mich wichtig ist.“
„Du wirst langsam erwachsen“, lachte mein Vater.
Ich machte mit dem Handball weiter bis zum Abitur, und in meiner letzten Saison wurde ich Torwurfkönigin der Liga.
Diese Erkenntnis bedeutete natürlich nicht, dass ich in den nächsten Wochen und Monaten keine Albträume mehr hatte, oder dass ich Leons Grinsen leichter ertragen konnte, das er sich bald wieder angewöhnte, oder dass mein unbeschwertes Urvertrauen in meine Mitmenschen zurückkehrte. Ich wurde stiller, verschlossener und noch schüchterner, als ich es ohnehin schon gewesen war. Tief in meinem Inneren gebe ich Leon die Schuld dafür, dass mich erst viel später trauen sollte, mich auf eine Beziehung mit einem Jungen einzulassen.
Und die Geschichte war noch nicht vorbei.
2 Gedanken zu “Mobbing – der Weg zurück”