Fünf unglaubliche Minuten

Für das neue Jahr habe ich keine konkreten Vorsätze gefasst, weil ich weiß, dass das ohnehin vollkommen sinnlos ist. Das Leben schlägt bei Bedarf einfach wild um sich und wirft einen aus der Bahn. Also ist mein Vorsatz schlicht „leben“. Nicht „überleben“, sondern „leben“. Das muss für 2017 reichen. Brücken sind nicht zum runterspringen da, sondern zum drübergehen.

Doch dann geschah in der ersten Woche des neuen Jahres etwas derartig Unglaubliches und Unerwartetes, dass sämtliche dunklen Schatten der letzten Monate schlagartig wie weggeblasen waren. Die Erinnerung an dieses eine Erlebnis könnte ausreichen, um mich, wenn nicht den Rest des Lebens, so doch die nächsten Monate vor dem Rücksturz in die totale Finsternis und Verzweiflung zu bewahren.

Eigentlich war es eine ganz profane Situation, die aus mir bisher vollkommen unerklärlichen Gründen innerhalb weniger Augenblicke „positiv eskaliert“ ist.

Es war der erste Vorlesungstag nach den Weihnachtsferien. Auf dem Weg von der Haltestelle zum Campus blies der kalte Wind noch kältere Regentropfen in mein Gesicht, und meine Laune war höflich formuliert „gemischt“. Man kann sich durchaus über mieses Wetter aufregen, auch wenn die Kleidung perfekt ist. So schlurfte ich lustlos ins Gebäude, schob die Kapuze mit dem Pelzrand nach hinten und wischte mir die nasse Kälte aus dem Gesicht, als ich in etwa zehn Metern Entfernung einen ehemaligen Mitschüler erblickte, der mir direkt entgegenkam. Er musste mich ebenfalls gerade erst bemerkt haben, und sein im ersten Sekundenbruchteil noch etwas missmutiger Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig in ein fröhliches Lächeln. Ich spürte, dass mein Gesicht dieselbe Reaktion zeigte, von eben noch mürrisch und ärgerlich zu gut gelaunt und erfreut.

In der Schule hatten wir nie viel miteinander zu tun gehabt. Wir hatten in der Oberstufe einige gemeinsame Fächer belegt, er war für ein paar Monate mit einer sehr guten Freundin von mir zusammen gewesen, und sicherlich haben wir die ein oder andere gemeinsame Feier besucht, aber das war auch schon alles, was uns miteinander verband. Oh, natürlich, wie hätte ich es vergessen können: das Ende seiner Beziehung mit meiner Freundin war sehr unschön gewesen, denn sie hatte ihn nacheinander mit zwei anderen Typen betrogen, und sie hatte mit denen nicht nur rumgeknutscht. Was auch dazu geführt hatte, dass ich meine Freundschaft mit ihr aufgekündigt hatte. Ich hatte damals wirklich Mitleid mit ihm gehabt, aber wie das so ist – man lebt sein eigenes Leben, und nach der Schule verliert man sich aus den Augen. Ich wusste nicht einmal, dass er inzwischen in derselben Stadt wohnte wie ich.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen und ich darüber nachdachte, wie man einen alten Schulfreund angemessen begrüßt ohne dass es zu aufdringlich, zu distanziert oder zu peinlich ist, standen wir uns schon direkt gegenüber. Das Lächeln hielt der näheren Betrachtung stand, und ich hatte das Gefühl, dass wir uns erst gestern auf dem Schulhof oder auf einer Party getroffen hätten.

Wir streckten gleichzeitig unsere Hände zur Begrüßung aus, aber die Bewegung ging bei uns beiden ohne jegliche Verzögerung in weit ausgebreitete Arme für eine Umarmung über. In der ganzen Phase der jetzt folgenden Entwicklung hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl von „awkwardness“, wie man auf Englisch so schön sagen kann. Auch meine panische Furcht vor der Nähe zu anderen Menschen oder gar Berührungen, mit der ich in den letzten Monaten sehr zu kämpfen gehabt hatte, war wie weggeblasen. Als wären die Katastrophen und Tiefschläge der letzten Zeit nie eingetreten.

Es gibt ja unabhängig von irgendwelchen furchtbaren Erlebnissen, die einen zu einem Psychowrack werden lassen, ganz alltägliche Situationen, die langsam in ein unangenehmes Gefühl übergehen und wo man sich nichts sehnlicher wünscht als entweder im Boden zu versinken oder noch besser an einem ganz anderen Ort zu sein. In noch schlimmeren Fällen entwickeln sich harmlose Situationen ohne Vorankündigung zu einer großen Gefahr, und unter den Folgen einer solchen Begegnung hatte ich die letzten Monate genug gelitten, was mich von einer fröhlichen, aufgeschlossenen und manchmal vielleicht auch leichtgläubigen und arglosen Frau zu einer sehr zurückhaltenden und verschlossenen Skeptikerin hat werden lassen.

Aber hier und jetzt waren das nagende Misstrauen und die latente Angst wie weggeblasen. Ich wurde angelächelt und lächelte zurück, und das war ein schönes Gefühl.

Ich sah durch meinen Absturz längst nicht mehr so attraktiv aus wie vor ein paar Jahren zu Schulzeiten, was meinem Selbstbewusstsein einen herben Schlag versetzt hatte. Verdammt, ich litt wirklich darunter, dass mein Körper in den letzten Monaten ein unschönes Abbild meiner inneren Zerstörung geworden war. Seit meiner frühen Jugend lege ich viel Wert auf Sport und einen dadurch wohlgeformten Körper, nicht zu viele Muskeln, wenig Fett, das war mir immer wichtig. Ich hatte nach der Katastrophe keinen Sport mehr treiben können, was mein Gewicht in wenigen Wochen vollkommen aus dem Ruder geraten ließ. Um gegen die dramatische Zunahme anzugehen, hatte ich einfach nichts mehr gegessen, die einzige Handlung, über die ich in meinem kaputten Leben noch eine Art von Kontrolle hatte, was mein Gewicht natürlich in kürzester Zeit wieder nach unten brachte, aber ohne Muskeln sah ich noch beschissener aus als vorher. Also fing ich wieder an zu essen, aber mir kam alles direkt wieder hoch, oder, besser gesagt, ich wollte, dass alles wieder hochkommt, so dass ich zwischenzeitlich einen BMI von nur noch vierzehnkommairgendwas hatte. Auf den Rest meines Äußeren fing ich ebenfalls an zu scheißen, so dass ich bald aussah wie eine degenerierte Drogensüchtige. Inzwischen habe ich einiges davon wieder im Griff, vor allem das mit dem Essen geht wieder so halbwegs, aber meine Haut sieht immer noch aus wie die einer kürzlich einbalsamierten Mumie, und statt Muskeln bestehen viele meiner Körperteile inzwischen aus dürren Knochen mit einer eher unvorteilhaften Speckschicht. Aber darum kümmere ich mich, sobald ich den Rest meines Lebens wieder im Griff habe.

Zusätzlich habe ich irgendwann (da ist sie wieder, diese präziseste aller Zeitangaben, vielleicht sollte ich einfach schreiben „in den finsteren Zeiten“) in einem Anflug von Selbsthass (viel mehr hatte ich nicht für mich übrig) meine Haare abrasiert, so dass ich jetzt einen Kurzhaarschnitt habe, der mir inzwischen aber tatsächlich sehr gut gefällt. Die lange blonde Mähne aus Schulzeiten ist einem drei Zentimeter kurzen, inzwischen immerhin etwas texturierten Pixie in dunkelgrau mit kurz rasierten Haaren an den Seiten und im Nacken gewichen. Und ja, die Haare sind gefärbt, so schlimm ist es dann doch noch nicht.

Mein Outfit war an diesem Morgen ebenfalls eher eintönig: schwarzer Daunenparka, grauer Pullover, enge schwarze Biker-Jeans (die derzeit trotzdem scheiße sitzen), mattschwarze Schnürboots. Farbe bringe ich wieder in mein Leben, wenn mir danach ist.

So standen wir uns also für eine gefühlte Ewigkeit, die tatsächlich nur für den Bruchteil einer Sekunde andauerte, gegenüber, und umarmten uns dann einfach. Prompt fühlte es sich an, als hätte jemand die Sonne angeschaltet. Draußen vor der Tür schüttete und wehte es bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt, hier drinnen flimmerten hässliche kalte LED-Funzeln von der tristen Betondecke auf den öden farblosen Linoleumboden, aber wir lagen uns in den Armen und ließen die Sonne füreinander scheinen.

Ich hätte den Rest meines Lebens so verbringen mögen und wäre als glücklichster Mensch der Welt gestorben. Aber es wurde noch unglaublicher.

Ich will gar nicht sagen, dass ich mich fühlte als wäre ich irgendwo „angekommen“ oder als hätte ich „die Liebe meines Lebens“ gefunden. Es ging, zumindest was das Gefühl in meinem Inneren betrifft, weit darüber hinaus. Mir war nie ganz klar, was Transzendenz oder Unsterblichkeit bedeutet, aber ich bin absolut sicher, dass ich diese Begegnung nie vergessen werde.

So standen wir also mitten auf dem Flur, eng aneinander geschmiegt, atmeten die Aura des anderen ein, spürten die Wärme und den Pulsschlag, hörten und fühlten die Atmung. Es war als würde man in den anderen hineinsehen, aber nicht auf medizinisch-anatomische Art, es war eher ein sich-hineinversetzen in den anderen. Im absoluten Gegensatz zu den letzten Monaten, in denen ich mein Leben und das aller anderen wie durch eine Kamera oder von einer Zuschauertribüne beobachtet hatte, befand ich mich nun mittendrin. Ich fühlte sein Leben, sein „ich“, seine Sorgen und Nöte, seine Freude und sein Glück. Ich spürte, dass auch er irgendein dunkles Geheimnis in sich trug, einen unaussprechlichen Schmerz, ein unendliches Leid. Aber genauso spürte ich, dass wir beide uns in diesem Moment gegenseitig Kraft und Wärme gaben, als wäre zwischen uns ein Kraftfeld entstanden. So wie bei der Multiplikation zweier negativer Zahlen das Ergebnis positiv ist, so war es auch bei uns: zwei Menschen, die nur miese Gedanken und Gefühle hatten, lieferten einander positive Energie.

Doch wir waren noch nicht am Ende. Ohne es geplant oder gar ausgesprochen zu haben, fingen wir an uns zu küssen. Erst ein wenig zögerlich auf die Wange, das Ohr, den Hals, und nach kurzer Zeit auf den Mund. Es waren keine fordernden Küsse, keine, die auf das limbische System zielten und schrien „los, nimm mich!“, sondern eher sanfte, spielerische, knisternde, solche, die für sich alleine stehen können und keinen abschließenden Höhepunkt im Bett verlangen, weil jeder einzelne dieser Küsse bereits ein Höhepunkt für sich ist. Wir waren vollkommen zufrieden und glücklich, die Umgebung war verschwommen wie hinter einer Wand aus Milchglas, und obwohl auf dem Flur bestimmt Dutzende von Kommilitonen, Dozenten und Mitarbeitern auf dem Weg in die Hörsäle und Büros vorbeihuschten, hatten wir diesen Moment ganz für uns allein.

„Ich habe leider eine wichtige Vorlesung…“, flüsterte er entschuldigend zwischen zwei Küssen auf meine Unterlippe.

„Ich auch.“

Wir unterbrachen die Küsse, aber nicht unsere Umarmung, und sahen uns in die Augen.

„Coole Frisur!“

„Danke. Hat aber eine uncoole Ursache.“

„Das habe ich gemerkt.“ Er strich mir bestätigend über den Rücken.

„Steht dir trotzdem gut!“

„So hat alles auch seine guten Seiten.“

„Vielen Dank.“

„Wofür?“

„Die Wärme. Und das Licht.“

„Danke, ebenfalls.“

Wir küssten uns erneut. Mir wären beinahe die Tränen gekommen. Nicht, weil mir bewusst war, dass unsere Wege sich gleich wieder trennen würden, sondern weil ich mich noch nie so geborgen und sicher und geliebt gefühlt habe wie in diesen Minuten. Wie gesagt, ich rede hier nicht von der Liebe meines Lebens oder von überbordendem Verlangen. Es war einfach als hätte er mir, oder besser gesagt wir uns gegenseitig, in finstersten Zeiten gezeigt, dass menschliche Nähe und Zuneigung eine unglaublich große Energie freisetzen können.

„Bis bald.“ Es klang weniger nach einer Frage als vielmehr nach einer großen Gewissheit.

„Sicher.“

Wir lösten uns aus der Umarmung, und auch dieser fragile Moment des Abschieds hatte nichts Peinliches oder Verlegenes an sich. Wir lächelten uns an, gingen ein paar Schritte rückwärts voneinander weg, nickten uns wissend zu und setzten dann unsere vor ein paar Augenblicken unterbrochenen Wege fort.

Nach ein paar Schritten drehte ich mich um, ebenso wie er. Wir waren noch im Gleichtakt. Ein letztes Lächeln, ein kurzes Winken aus dem Handgelenk, und er verschwand in einer wuselnden Wand aus Studenten.

Das ist jetzt (Mitte Januar) ungefähr eine Woche her. Seitdem habe ich ihn noch nicht wiedergesehen. Ich habe keine Adresse, keine Telefonnummer und keine sonstigen Kontaktdaten von ihm.

Das Schicksal wird uns bei Bedarf wieder zusammenbringen und jeden von uns die Sonne für den anderen scheinen lassen.

Ich wünschte, ich könnte meinen Freund wieder so lieben wie ich an diesem Morgen meinen ehemaligen Mitschüler geliebt habe. Ich wünschte, ich könnte meinen Freund einfach nur anrufen. Oder anschreiben. Oder einfach eine seiner unendlich vielen lieben und fürsorglichen Nachrichten beantworten.

Ich wünschte, ich würde das wollen.

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