Entweder widerfahren mir in letzter Zeit mehr gute als schlechte Dinge, oder die Gesamtsituation hat sich einfach nur ein wenig normalisiert und mir kommt das alles nur so vor – und es ist absolut betrachtet gar nicht so gut, sondern einfach nur nicht mehr nur schlimm wie noch vor wenigen Wochen als ich gefühlt von einer Katastrophe in die nächste geriet.
Vor ein paar Tagen saß ich morgens im Bus, vermutlich mit meinem momentan bevorzugten „leckt mich doch alle!“-Gesicht, und versuchte meine Psyche davon abzuhalten, sich wieder in die Geisterbahn Richtung Abgrund zu setzen. Nicht nur das Wetter war mies, sondern ich hatte auch – wie üblich – praktisch überhaupt nicht geschlafen, und im Büro wartete eine total überflüssige Aufgabe auf mich, die ich als Studentin machen „darf“, weil die anderen entweder überbezahlt oder überqualifiziert sind – oder genauso wenig Bock darauf haben wie ich.
Ich habe mit meinem abweisenden Gesichtsausdruck inzwischen sehr viel Übung, es hält die Leute zuverlässig davon ab, mich länger als den Bruchteil einer Sekunde anzusehen. Die meisten verhalten sich so, als wäre ich gar nicht anwesend, was ich sehr begrüße. So kann ich mich auf meine schlechte Laune konzentrieren, bevor ich in der Uni oder im Büro wieder funktionieren muss. Die Work-Life-Balance soll ja stimmen, also will ich meine Abartigkeit nicht permanent an meinen Kommilitonen oder Kollegen auslassen. Folgerichtig lasse ich sie an mir aus, ich kann damit umgehen und bin ohnehin vollkommen neben der Spur.
So starrte ich also mürrisch und abschreckend vor mich hin und versuchte mich auf den Rand des Abgrunds zu konzentrieren, der inzwischen ziemlich einladend wirkte, als der ältere Herr, der mir gegenüber saß, sich mit einer zaghaften Handbewegung bemerkbar zu machen versuchte. Ich wollte ihn ignorieren, indem ich so tat, als blickte ich weiter starr geradeaus, aber vor meinem inneren Auge sah es so aus, als würde seine Hand aus der Finsternis winken, was der Situation eine morbide Komik verlieh.
Ich fokussierte also kurz sein Gesicht, das sehr freundlich und gleichzeitig ein wenig besorgt wirkte, und ein hoffnungsvolles Lächeln blitzte in seinen Augen auf.
„Entschuldigung“, schienen seine Lippen zu formen.
Ich wollte mich auf keinen Fall auf eine längere Unterhaltung mit irgendeinem wildfremden Kerl einlassen, egal wie nett er scheinen mochte, ich wollte einfach nur ein bisschen meine kaputte Seele leiden lassen. Trotzdem zog ich meine Ohrhörer heraus, etwas ruppiger als erforderlich, und maulte nur: „Ja?“ Das zeigte normalerweise Wirkung, wer auch immer so angesprochen wurde, zuckte üblicherweise zusammen und trollte sich wieder.
Doch er blieb freundlich, lächelnd, ein wenig besorgt, und fuhr ungerührt fort: „Entschuldigen Sie bitte. Ich überlege, ob, und wenn ja, wie es möglich ist, Sie zum Lächeln zu bringen.“
Ich wollte etwas antworten wie „Lassen Sie mich in Ruhe!“ oder „Das geht Sie gar nichts an!“, aber ich saß nur da und starrte ihn an. Was für eine bescheuerte Frage! Mir geht es dreckig, ich bin müde, habe schlechte Laune und würde unter nur ganz leicht schlechteren Bedingungen lieber von einer Brücke springen als um diese abartig frühe Uhrzeit in diesem müffeligen und rumpeligen Bus zur Arbeit zu fahren, und dieser … alte … okay, nicht ganz so alte … Typ will wissen, unter welchen Umständen ich lächeln würde? Oh Mann. Da könnte er auch fragen, wie man einen Elefanten zum Fliegen bringt.
Er lächelte noch immer, kein breites Grinsen, keine aufgesetzte Maske, einfach nur ein freundliches und … offenes … empathisches … und vor allem: ehrliches, echtes, wahrhaftiges Lächeln.
Ich dachte nach. Ja, neulich, diese Begegnung mit meinem Schulfreund, da habe ich tatsächlich gelächelt. Warum ich damit angefangen hatte, weiß ich bis heute nicht. Es hatte mich einfach überkommen, ebenso wie ihn, und dann war alles absolut surreal geworden. Einzigartig.
Aber sonst? Ich blickte in den Abgrund. Schwarz, leer, unendlich tief und sinnlos. Da gibt es nichts zu lächeln. Da gibt es überhaupt nichts.
Trotzdem spürte ich ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln. Die Muskeln, mit denen man lächelt, sind ähnlich wie die, die den Tränenfluss einleiten und regulieren. Und, oh ja, geheult habe ich in den letzten Monaten wahrlich genug. Bis das irgendwann wieder aufhörte, womit sich allerdings auch meine Empathie verabschiedet hatte. Man kann vermutlich nicht alles haben. Entweder Tränen haben und heulen können und empathisch sein – oder eben nichts von alldem. Wie das Winterpaket beim Auto oder das All-Inclusive-Bändchen im Club.
Ich versuchte den Muskeln ein Lächeln abzuringen. Das kann ich entweder, weil mir danach ist und es von innen heraus kommt, oder ich kann es aufsetzen, was vermutlich so ähnlich aussieht wie mein „leckt mich doch!“-Gesicht. Ich wollte kein leck-mich-Gesicht, also begann ich, in meinen Erinnerungen nach lächelwürdigen Erlebnissen zu kramen. Das Problem ist, dass meine Erinnerungen momentan so ähnlich strukturiert sind wie die Büchse der Pandora oder ein Minenfeld. Ich muss wirklich aufpassen, dass ich nicht in irgendeine emotionale Tretmine latsche, sonst ist der Tag gelaufen, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen.
Ich blickte Richtung Abgrund. Nein, dahin gehe ich auf keinen Fall. Schön hier oben bleiben. Ich versuche mich auf die Erlebnisse der letzten beiden Wochen zu beschränken, und da gab es ja die Begegnung mit meinem Schulfreund. Nein, die induziert jetzt kein Lächeln, vermutlich, weil die Situation so absurd schön war, dass sie nur für sich selbst stehen kann. Das muss ich mir für wirklich schlimme Zeiten aufbewahren, das hilft nicht bei alltäglicher schlechter Laune morgens im Bus.
Also früher. Vor dem … Zwischenfall im letzten Jahr. Ich öffnete wahllos irgendeine Schublade in meinem Kopf und spürte, wie sich alles zusammenzog. Als würde die Erinnerung, die da zum Vorschein kam, meinen Körper auf die Größe einer Erbse schrumpfen lassen, und mir die vollkommene Bedeutungslosigkeit der schlimmsten Erlebnisse der letzten Monate bewusst machen.
Morten.
Mein Freund.
Wie in einer Mischung aus Zeitraffer und Zeitlupe liefen unsere ersten Sekunden, Minuten und Tage vor meinem inneren Auge ab. Der erste Blickkontakt, die erste Berührung (die besser als Zusammenprall bezeichnet werden kann), die erste Nacht (die beinahe unsere letzte gewesen wäre) – und alles fühlte sich an, als ob der finstere Schatten der vergangenen Monate nie existiert hätte. Oder als ob seitdem keine fünf Minuten verstrichen wären.
Ich spürte, wie die Muskeln in meiner unteren Gesichtshälfte sich bewegten. Die Mundwinkel gingen langsam nach oben, und mein eben noch erbsenkleiner Körper dehnte sich schlagartig wieder auf Normalgröße und wurde von wohlig kribbelnder Wärme durchströmt. Das Kribbeln lief den Hals hinauf und erreichte das Gesicht, das unter diesen Umständen gar nicht anders konnte als breit zu lächeln. Die Wangen drückten meine Augen zusammen, und während ich mich über die schönen Erinnerungen und mein erstes selbsterzeugtes Lächeln seit Monaten freute, schossen mir Tränen in die Augen. Ich lachte und heulte gleichzeitig, freute mich darüber, dass ich mich an Morten erinnern konnte und dass ich mich darüber freuen konnte, und heulte gleichzeitig darüber, dass ich ihn seit Monaten aus meinem Leben verstoßen hatte und nicht wusste, ob ich ihn überhaupt zurückhaben wollte.
Und was hatte mich dazu gebracht? Der nett und freundlich lächelnde Mann mir gegenüber hier im Bus.
Ich versuchte ihn durch den Lach-und-Heultränenschleier hindurch zu fokussieren, doch meine Augen spielten mir einen Streich – sie zeigten nur ein total verschwommenes Bild. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, kniff die Augen zusammen und blinzelte: der Platz mir gegenüber war leer.