Ich bin immer noch auf der Suche nach einem normalen Alltag. Einiges geht schon wieder ganz gut, anderes geht noch gar nicht, zum Beispiel größere Mengen fremder Menschen, auch wenn mein „leckt mich!“-Gesicht sehr nützlich ist. Ich schotte mich einfach ab und baue keine Relation zu meiner Außenwelt auf, was mir momentan das Überleben „da draußen“ erleichtert, auf Dauer aber natürlich nicht so bleiben kann.
Meine beiden besten Freundinnen waren der Meinung, dass ein Kinobesuch ganz hilfreich wäre. Sie schleiften mich mit in „La La Land“, der tatsächlich ein sehr schöner und berührender Film ist. Er bekommt auf jeden Fall einen Sonderpreis für die absurdeste Eröffnungsszene aller Zeiten, außerdem habe ich zwischendurch viel geheult und am Ende noch viel mehr.
Eine Erkenntnis aus dem Film ist, seine Träume nicht aufzugeben, aber auch nicht seine große Liebe. Das ist in meiner momentanen „La La Lage“ ebenfalls ein gewaltiges Problem. Ich weiß nicht einmal, ob meine große Liebe, und dafür habe ich Morten in unserer kurzen gemeinsamen Zeit tatsächlich gehalten, überhaupt noch bereit ist, es weiterhin mit mir zu versuchen. Ich habe ihn über Monate ignoriert, die Gründe dafür sind vielschichtig, liegen aber alle bei mir.
Nach der Vorstellung, als der Abspann lief, zog ich mein iPhone aus der Tasche. Betrachtete es wie einen unbekannten Gegenstand, den ich noch nie zuvor in der Hand gehalten hatte. Ich legte den Daumen auf den Fingerabdrucksensor.
[17:25] verkündete der Bildschirm.
Wie ferngesteuert tippten und wischten meine Finger über das Display. Sorgfältig. Mechanisch. Zielstrebig.
M: [zuletzt gesehen: vor mehr als 3 Monaten. Der Nutzer ist blockiert. Entsperren? <Ja> <Nein>]
Mein Zeigefinger schwebte über dem <Ja>.
Ich schloss die Augen. Die Abspann-Melodie drang nur gedämpft in mein Bewusstsein vor. Der Abgrund lockte.
Nein. Nicht. Jetzt.
Ich blickte hinab in die Finsternis.
Einfach. Fallen. Lassen.
„Anna?“
Lasst mich einfach hier sitzen.
„Auf keinen Fall.“
Geht schon vor.
„Wir gehen nicht ohne dich.“
Ich muss allein sein.
„Anna … Bitte …“
Der Abgrund ist mein Freund. Da finde ich Ruhe.
„Anna!“
Ich blinzelte. Wir waren die letzten Zuschauer im Saal, die Leinwand hatte sich hinter dem dunklen Vorhang verkrochen und zwischen den Sitzreihen weiter vorne hatten zwei Mitarbeiter angefangen, die Hinterlassenschaften der anderen Gäste wegzuräumen. Bis auf das gelegentliche ‚Klong‘ oder ‚Pling‘ einer leeren Flasche oder Dose und dem Rascheln der Müllbeutel war es still.
Meine Freundinnen sahen erst mich und dann einander besorgt an.
Ich betrachtete meinen Zeigefinger, überrascht ihn zu sehen, als wäre er kein Teil von mir. Er hatte das <Ja> getippt.
M: [17:44 Nutzer entsperrt. Nachrichten werden wieder zugestellt.]
„Alles okay“, sagte ich, „lasst uns gehen, bevor sie uns rauswerfen!“
Ich warf einen letzten irritierten Blick auf das Smartphone, sperrte den Bildschirm und steckte es zurück in die Tasche. Mein Gesicht fühlte sich an als würde es lächeln.
Wir verließen den Saal und gingen, nein, schwebten die pompöse, mit dickem rotem Velours belegte Treppe zum Foyer hinab und schnatterten aufgeregt über den Film.
„Oh, ihre Kleider!“ – „Und ihre Stimme!“ – „Was für ein Sonnenuntergang!“ – „Er war so cool – und so kalt …“ – „Das Ende war ein Traum!“
Ich ließ meinen Blick über die Menschenmenge im Foyer schweifen; dicht an dicht, beinahe wie eine Pinguinkolonie, standen sie an für Popcorn, Tickets und Getränke, andere warteten schon an der roten Kordel am unteren Treppenabsatz auf den Einlass für die nächste Vorführung. Alte und junge Menschen, Familien, Freunde, Pärchen. Verliebte Pärchen. Händchenhaltend, lächelnd, flirtend, turtelnd, küssend.
Plötzlich öffnete sich der Abgrund. Größer, gewaltiger, tiefer als je zuvor.
Morten.
Mit.
Einer.
Ein Gedanke zu “Ganz Großes Kino”