Der Weg zurück

Bitte die Triggerwarnung beachten!

Als Julia mir erzählt hatte, dass sie mit Rüdi zusammen ist, war ich zunächst richtig wütend. Nicht dass ich eine tiefschürfende Beziehung mit ihm gewollt hätte, aber mir war spontan nach einer wilden Nacht (oder zwei, oder drei) gewesen, und nun guckte ich in die Röhre.

Die nächsten Tage war ich komplett ungenießbar, aber diesmal hatte ich auch einen konkreten Anlass für mein Leck-mich-Gesicht (wobei die Ironie der Doppeldeutigkeit dieses Begriffs hoffentlich keiner weiteren Erläuterung bedarf) und nicht wie sonst grundlos schlechte Laune. Aber da meine Kollegen, Kommilitonen und Dozenten sich inzwischen an meine phasenweise soziale Inkompetenz (oder ist es asoziale Kompetenz?) gewöhnt haben, mussten sie nicht mehr erleiden als üblich.

Als ich zwei Tage darauf abends nach Hause kam, hatte ich eine derartige Wut angestaut, dass ich problemlos eine ganze Löwenherde hätte niederbrüllen können. Zum Glück hatte Julia sich mit weiteren Nachrichten aus dem Pärchen-Paradies zurückgehalten, sonst wäre ich vermutlich vollends ausgerastet.

Ich musste raus und mir Luft verschaffen, und da ohnehin mein „Lauftag“ war, hatte ich in Rekordzeit meine Laufklamotten an und wärmte mich auf. Kurz darauf lief ich durch strömenden Regen und knöcheltiefe Pfützen, der schneidende Wind trieb mir die Tränen in die Augen, jedenfalls wäre das die offizielle Version gewesen, falls man mich nach meinen feuchten Wangen gefragt hätte.

Ich lief und lief, fluchte und flennte, schimpfte und schniefte, doch irgendwann schaltete sich mein Gehirn, zumindest der bewusste Teil, einfach ab und ich lief nur noch. Tappte in Pfützen, dass es nur so spritzte, wich beschirmten Fußgängern aus, hüpfte über Bordsteinkanten, wurde eins mit dem Weg. Das monotone Tapp-Tapp oder eher Patsch-Patsch meiner Füße versetzte mich in einen meditativen Zustand der Ausgeglichenheit und Ruhe. Nicht denken, nur laufen. Das hier könnte ich ewig machen. Gleichmäßiger Dauerlauf. Tapp-Tapp. Patsch-Patsch. Tapp-Tapp.

Endorphine sind eine tolle Sache, sie tragen einen wie die Wellen beim Surfen. Es ist als ob man schwebt, als ob man bei aller Anstrengung noch Energie herausbekommt.

Und dann kommt irgendwann der Hammer und haut einen um.

Sheldon, mein Fitnesstracker, war der Meinung, dass ich sehr stolz auf mich sein sollte. 3,2 Kilometer auf der Uhr, und eine für meine Verhältnisse gar nicht so schlechte Pace. Aber knapp zwei Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Ohne Handy. Ohne Fahrkarte. Ohne Kleingeld. Im immer noch munter strömenden Regen.

Meine einzigen Ressourcen waren ein Energieriegel, ein kleines Fläschchen Wasser und meine Beine. Die sich anfühlten als wären sie aus Gummi.

Immerhin ergab sich so die Gelegenheit, an einem Tag mehr als fünf Kilometer zu laufen. Ich sah mich schon vollkommen erschöpft in der Gosse liegen und dann vom Rettungswagen in die Notaufnahme eingeliefert werden, doch das erschien mir vollkommen inakzeptabel.

Also warf ich den Power-Riegel ein, trank einen Schluck und machte mich dann auf den Heimweg. Was bis vor wenigen Minuten noch ein lockerer Trab ohne jegliche Anstrengung gewesen war, fühlte sich jetzt an, als ob ich durch die Hölle rannte. Meine Beine brannten, meine Lunge brannte, es war wie bei meiner Turmbesteigung vor ein paar Wochen, und ich vermute, dass die Erinnerung an genau dieses Erlebnis meine letzten Kraftreserven mobilisierte.

Sheldon trug allerdings weniger zur Motivation bei; ich bin ja der Meinung, dass es einerseits ganz schön ist, wenn man weiß, wie weit es noch bis zum Ziel ist, andererseits ist es vollkommen frustrierend, wenn man objektiv sieht, wie langsam man unterwegs ist. Die Minuten kamen mir vor wie Stunden, und als ich den ersten Kilometer des Rückwegs geschafft hatte, war ich drauf und dran, einfach umzufallen und mich meinem Schicksal zu ergeben. Doch ich musste weiter. Wenn ich erst abkühlte, wäre alles vorbei, dann bräuchte ich tatsächlich einen Notarzt.

Also biss ich die Zähne zusammen und lief weiter. Meine Tränen waren jetzt eher durch körperliche Schmerzen bedingt, obwohl ich mich zusätzlich noch über meine eigene Blödheit ärgerte. Nicht nur, dass ich vor Wut einfach ziellos irgendwohin gelaufen war, ich hatte mich auch überhaupt nicht auf irgendwelche Ausfälle vorbereitet.

Ich war sauer auf mich selbst, und dann war ich sauer, weil ich sauer auf mich selbst war. Eine wunderbare selbsterfüllende Prophezeiung, die mich üblicherweise direkt in meinen inneren Abgrund führte, denn ich bin gut darin, mir an allem die Schuld zu geben. Sicher hatte ich momentan nur meine Beine, um wieder nach Hause zu kommen, aber das war doch eigentlich großartig! Positiv denken! Das war mein Mantra. Ein Schritt! Noch einer! Tapp-Tapp! Patsch-Patsch! Weiter!

Ich lief mich quasi in Trance. Der eiskalte Regen lief mir über das Gesicht, in den Kragen, ich war inzwischen vollkommen durchnässt, meine Schuhe fühlten sich an wie vollgesogene Schwämme, das Wasser quoll bei jedem Schritt zwischen meinen Zehen hindurch, und meine Hände und mein Gesicht fingen an zu frieren. Das ist ein eindeutiges Warnsignal, aber mir blieb nichts anderes übrig – ich musste weiter.

Mein Körper hätte jetzt einfach sagen können, so, vielen Dank, das war’s, ich mach jetzt Feierabend, sieh zu wie du nach Hause kommst. Doch er hielt tapfer durch, und plötzlich stand ich vor meiner Haustür. Triefend nass, meine Hose und Schuhe über und über mit Dreck und Schlamm beschichtet (ich dachte instinktiv: hoffentlich klebt dazwischen nicht irgendwo ein Hundehaufen!), meine Ohren und Nase kalt wie Eiszapfen, und meine klammen und zitternden Finger hatten echte Probleme, den Schlüssel ins Schloss zu kriegen.

Ich nahm den Fahrstuhl. Bei meinem Einzug hatte ich mir geschworen, dass ich das Ding nie im Leben benutzen würde, aber meine Beine streikten. Und da wollte ich nicht widersprechen.

Nachdem ich in meiner Wohnung die Tür hinter mir geschlossen hatte, entledigte ich mich auf der Strecke von der Wohnungstür bis zur Badewanne meiner nassen, klebrigen und schmutzstarrenden Klamotten und verbrachte die nächste halbe Stunde in der warmen Wanne.

Meine Wut auf mich und meine Dummheit verflog in der wohligen Wärme, und ich war komischerweise auch nicht mehr sauer auf Julia und Rüdi. Wer war er schon, verglichen mit … nein, ich musste aufhören, alle potenziellen Kandidaten mit Morten zu vergleichen, ansonsten würde das nie was werden mit … ja, mit was eigentlich? Mit einer Beziehung? Lächerlich. Das war das letzte, was ich derzeit irgendjemandem zumuten würde, dazu war ich einfach noch viel zu unerträglich.

Also, was wollte ich tatsächlich? Emotionale Nähe? Da könnte ich mich gleich von der nächsten Brücke stürzen, und über dieses Verlangen war ich zum Glück hinweg. Körperliche Nähe? Schon eher. Ich hatte ein Trauma zu überwinden, und jedesmal, wenn meine Gedanken sich diesem Thema näherten, fühlte ich mich wie vor meinem ersten Sprung vom Zehner im Freibad. Mit dem Unterschied, dass ich damals ein vollkommen furchtloses Mädchen gewesen war, ich hatte nur Respekt vor der Tatsache gehabt, dass ich noch nie einen Sprung aus dieser Höhe gemacht hatte.

Jetzt war die Situation allerdings eine ganz andere. Ich hatte seit dem „ersten Mal” nie sonderliche Probleme mit Körperlichkeit gehabt, aber der … Zwischenfall … vor einigen Monaten hatte deutliche Spuren hinterlassen. Es galt also, mehr als nur einen inneren Schweinehund zu überwinden.

Aber vermutlich ist das nicht so viel anders als nach einem schweren Sturz so schnell wie möglich wieder aufs Fahrrad zu steigen. Schlimmer, ja, aber vom Konzept her identisch. Nur dass ich das blöde Gefühl hatte, dass ich für meinen Neuanfang in einem Zirkuszelt mit einem Fahrrad auf einem Hochseil entlang fahren sollte. Ohne Lenker. Ohne Netz und doppelten Boden. Im Dunkeln. Und ohne Seil.

Aber je länger ich das hinauszögerte, desto schwieriger würde es vermutlich werden.

Vielleicht, so überlegte ich, als ich in Bademantel und Wolldecke gehüllt auf dem Sofa lag und einen Smoothie schlürfte, sollte ich mich einfach bei Tinder anmelden?

Nur zum Gucken natürlich!

Das entspräche vermutlich der eben beschriebenen Zirkusnummer, allerdings zusätzlich mit Feuerreifen, Messerwerfern und hungrigen Löwen und Tigern.

10 Gedanken zu “Der Weg zurück

      1. Ach, so generell in unangepasstem Verhalten aufgrund von Chaos im Hirn. Zum Glück habe ich verständnisvolle Menschen um mich herum, die darüber lachen können. Und dann lache ich manchmal auch darüber, egal wie ätzend ich mich gerade benommen habe 😉

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