Chaostage (Teil 1)

Die ersten Tage, nachdem Morten vor knapp zwei Wochen ins Krankenhaus gekommen war, brachten einiges an Klarheit in mein Chaosleben, aber ich und mein krankes Hirn schaffen es natürlich immer wieder, mir selbst neue Schwierigkeiten zu bereiten.

Mein Tagesablauf war zunächst so, dass ich früh morgens Morten im Krankenhaus besuchte, dann zur Arbeit oder in die Uni fuhr, dann wieder ins Krankenhaus und danach nach Hause, wo ich dann meistens total erschöpft und kaputt auf dem Sofa wegdämmerte. Die ersten Tage lag Morten noch im künstlichen Koma, und mir war jedesmal so, als ob damit auch ein Teil von mir gestorben war. Egal, ob er wieder aufwachen würde oder nicht – dieses Stück von mir würde niemals wieder lebendig werden.

Meine Gefühle fuhren Achterbahn mit mir. Einerseits sehnte jede Faser meines Körpers sich nach dem Moment, an dem er wieder aufwachte – und dass das passieren würde, versicherten mir die Ärzte und Schwestern jeden Tag aufs Neue -, andererseits hatte ich unglaublich große Angst vor diesem Augenblick. Die ersten Male heulte ich fast durchgehend, während ich bei ihm war, aber irgendwann stumpft man vermutlich ab und leidet nur noch innerlich. Manchmal stand ich mehr als eine Stunde lang einfach nur neben seinem Bett, strich vorsichtig über seine Finger, die aus dem Verband ragten, und versuchte meine Gedanken zu sortieren.

Mir war nicht einmal richtig klar, warum ich ihn überhaupt besuchte. Wollte ich damit meine Trennung von ihm wieder gut machen, so nach dem Motto, ich habe dich zwar vernachlässigt und dann verlassen, aber als kleine Entschädigung wache ich jetzt an deinem Krankenlager, bis du wieder zurückkehrst? Oder wollte ich es darauf anlegen, Ida, seiner Freundin-oder-Ex-oder-doch-was-anderes, über den Weg zu laufen, um ihr zu zeigen, hey, ist mir egal, ob du ihn verlassen hast und ihn im Krankenhaus besuchst, aber das kann ich auch? Oder wollte ich einfach nur in seiner Nähe sein, ohne dass er es bewusst miterleben konnte … wie eine … Stalkerin?

Und wie sollte es überhaupt weitergehen, wenn er aufwachte? Ich hätte mein Leben geben mögen, um die Uhr wieder zurück zu drehen zu unserer großartigen Zeit im letzten Sommer, als ich das erste Mal im Leben das Gefühl gehabt hatte, richtig angekommen zu sein. Er war einfach perfekt gewesen. Nicht, dass er mir irgendwelche exotischen Wünsche von den Lippen ablesen konnte oder mich auf Händen trug. Nein, es war das Gefühl absoluter Sicherheit und Vertrautheit, das er mir schlicht und ergreifend dadurch vermittelte, dass er existierte. Ich wusste, dass ich mich in jeder Situation hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Und wenn wir in einem brennenden Hochhaus gestanden hätten, um uns herum lodernde Flammen und dichter Rauch, und er hätte gesagt, hey, da drüben, auf der anderen Seite, ist eine kleine Plattform, auf die springen wir jetzt und sind in Sicherheit, dann wäre ich mit ihm gesprungen – und ich war mir absolut sicher, dass wir das überlebt hätten.

Dieses tief in mir drin sitzende Gefühl war das Fundament meines Lebens geworden, mein Fels in der Brandung, mein Leuchtturm in der Finsternis, mein Seil an der Felswand und mein Ruhepol im Chaos. Ich hatte nur an ihn denken müssen und sofort gute Laune und eine Extraportion Energie bekommen.

Und dann war die Katastrophe über mein Leben, nein, über unser Leben hereingebrochen, und ich hatte diesen großartigen Mann einfach weggejagt. Weil ich ihn vor meinem Absturz und meiner asozialen Abartigkeit bewahren wollte. Und hatte damit alles nur noch schlimmer gemacht.

So stand ich also jetzt jeden Tag an seiner Seite, strich ihm über die Finger, lauschte den Apparaten, die ihn mit Luft, Medikamenten und Nahrung versorgten und sein Leben (oder sein Überleben) überwachten, und fragte mich: würde er wollen, dass ich hier stehe? Oder würde er mich wegschicken, weil ich unsere Beziehung beendet hatte? Würde er mich hassen für das, was ich uns angetan hatte?

Oder würde er uns eine neue Chance geben?

Vermutlich würde er genau das tun, denn er besaß eine unglaubliche Mischung aus rationaler Gelassenheit und emotionaler Tiefe. Wir waren nicht zusammen geblieben (nicht nur), weil wir so wahnsinnig verliebt gewesen waren. Wir waren zusammen geblieben, weil wir beide das Gefühl gehabt hatten (jedenfalls ich), dass der andere absolut perfekt war (zumindest hatte ich das schon nach wenigen Tagen über ihn gedacht). Wie oft findet man schon jemanden, der einen nicht nur im Bett glücklich macht, sondern der einem auch mit ganz vielen kleinen Gesten und Handlungen im schnöden Alltag das Gefühl gibt, ein ganz besonderer Mensch zu sein?

Eben.

Davon ausgehend kreisten meine Gedanken weiter. Unsere große Liebe war erloschen, denn ich hatte die Flamme ausgetreten, mit eiskaltem Wasser übergossen und sie anschließend ins Meer geworfen. Ich konnte ihre Nachwirkungen aber noch spüren, tief in meinen Erinnerungen leuchtete ein kleiner Schimmer als Reflexion durch die finsteren Gänge und Tunnel meiner Vergangenheit. Und jedesmal, wenn ich neben seinem Bett stand, hatte ich das Gefühl, in ein altes Zuhause zurückzukehren. Wie mein altes Zimmer im Haus meiner Eltern, aber doch anders.

Meine Liebe zu Morten kam mir eher vor wie ein Tier im Zoo oder ein altes Foto hinter Glas. Wenn man es betrachtet, weckt es große Gefühle und eine unbändige Leidenschaft, aber so wie man kein Tier aus dem Käfig mit nach Hause nehmen und kein Foto zum Leben erwecken kann, so hatte ich auch das untrügliche Gefühl, dass unsere Liebe nichts mehr als eine schöne Erinnerung an eine bessere Zeit war. Und bleiben würde.

Ich hatte einfach keine Kraft, die Flamme wieder zu entzünden. Und, viel schlimmer, noch wahnsinnig viel schlimmer: ich hatte keine Lust dazu.

Dieser Gedanke trieb mir jedesmal die Tränen in die Augen und ließ mich erzittern, denn das bedeutete, dass ich keine Lust mehr dazu hatte, etwas Wichtiges und Schönes zu tun. Ich wollte kein Glück mehr im Leben haben. Diese Erkenntnis war so furchtbar, dass ich am liebsten schreiend weggerannt wäre, doch selbst dazu hatte ich keine Lust und keine Kraft. Also blieb ich noch ein paar Minuten bei Morten und ging dann wieder.

Dieses Ritual, mit all diesen Gedankengängen, wiederholte sich bis Freitag, und ich war jedesmal allein bei Morten. Seine Eltern und Ida waren offensichtlich zu anderen Zeiten da.

Und ich sollte sie bald treffen.

(Fortsetzung in Teil 2, Teil 3 und Teil 4)

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