(Fortsetzung von Teil 1 und Teil 2)
Niklas.
Mein Herz hüpfte in mehrere Richtungen gleichzeitig. Es hüpfte zuerst aufwärts, denn insgeheim hatte ich gehofft, ihn irgendwann wiederzusehen. Und direkt danach hüpfte es abwärts, denn ich wusste, wenn ich ihn jetzt auf die gute Seite wischte, würde ich vermutlich die Büchse der Pandora öffnen. Und es sprang wild hin und her, denn wenn ich diese Chance verstreichen ließ, könnte es sein, dass ich ihn nie wieder sah. Und vor dem Wiedersehen hatte ich gleichzeitig große Angst: ich konnte mir gut vorstellen, mit ihm ins Bett zu gehen, was alles zwischen uns ruinieren konnte. Doch selbst wenn das nicht passierte, hatte ich die Befürchtung, dass meine Probleme ihn erdrücken könnten. Ich hatte im Januar das Gefühl gehabt, dass zwischen uns eine ungewöhnliche Verbindung bestand. Und das wollte ich nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass ich meine eigene Unzufriedenheit, oder eher meinen Hass auf mich selbst, bei ihm abkippte. Er hatte vermutlich selbst große Probleme, zumindest hatte ich das tief in meinem Inneren gespürt, als ich ihn bei unserer letzten Begegnung umarmt und geküsst hatte.
Ich wollte ihn gerade, zu seinem eigenen Besten, aus meinem Leben wischen, als ich einen letzten Blick auf den Einzeiler unter seinem Bild warf: ‚Bist du die Eine?‘
Das machte mich neugierig … und ich wischte ihn auf die gute Seite, in der sicheren Gewissheit, dass er mich nicht gemeint haben würde.
Treffer.
Scheiße! Das konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Und er auch nicht.
Ich wollte meine Entscheidung gerade rückgängig machen, als eine Nachricht von ihm eintrudelte.
[N] „Hallo Anna, ich hoffe es geht dir gut.“
Verflucht! Ich konnte ihn jetzt nicht einfach ignorieren.
[A] „Hallo Nik. Danke, geht so. Und dir?“
[N] „War schon schlimmer ;)“
Das unglaublich starke Gefühl einer unerklärlichen Verbindung zwischen uns beiden stellte sich wieder ein. Ich spürte tief in meinem Inneren, dass es ihm besser ging als beim letzten Mal, und, wenn ich ehrlich sein sollte, bei mir hatte sich trotz aller Tiefschläge auch einiges zum Positiven verändert. Ich rannte nicht mehr mit dunkelgrauen Haaren und schwarzen Klamotten durch die Gegend und trug nicht mehr permanent mein Leckt-mich-doch-alle-Gesicht. Und ich hatte letztes Wochenende endlich wieder Sex gehabt. Und warum zur Hölle dachte ich ausgerechnet jetzt ausgerechnet daran?
[A] „Vielen Dank übrigens für den Sonnenschein vor einigen Wochen :)“
[N] „Danke, ebenso :)“
Ich wollte die folgende Frage eigentlich nicht stellen, tat es aber trotzdem.
[A] „Wer ist eigentlich die ‚Eine‘ unter deinem Profil?“
[N] „Ohje, die Antwort kann nur falsch sein …“
[A] „Na los, ich bin neugierig, und ich verspreche dir, dass ich nicht böse sein werde.“
[N] „Die Eine ist eher unspezifisch, es soll signalisieren, dass ich nicht irgendeine Beliebige suche.“
[A] „Oh, das ist absolut okay. Ich suche auch nur unspezifisch ;)“
[N] „Was suchst du denn?“
Ich wusste, dass ich ihm gegenüber offen und ehrlich sein konnte. Trotzdem wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen.
[A] „Ablenkung.“
[N] „Und, bist du schon fündig geworden?“
[A] „Immerhin habe ich dich wiedergefunden ;)“
[N] „Und ich dich ;)“
[A] „Und was machen wir jetzt damit?“
[N] „Wollen wir uns treffen?“
Oh nein, du willst mich nicht treffen. Ich bin dein Untergang.
[A] „Ja, gerne! Wann?“
[N] „Hast du heute Abend schon was vor?“
Ich muss ins Bett und heulen.
[A] „Heute ist es nicht so gut. Ich hatte eine anstrengende Woche. Morgen?“
[N] „Morgen bin ich auf einer Feier eingeladen. Möchtest du vielleicht mitkommen?“
[A] „Unter normalen Umständen schon. Mir ist aber momentan nicht nach feiern. Sonntag?“
[N] „Sonntag ist gut. Was wollen wir machen?“
[A] „Du könntest mittags herkommen und wir kochen was. Danach sehen wir weiter.“
[N] „Ja, gern, ich freue mich!“
Wir tauschten unsere Adressen und Handynummern aus und verlegten die Unterhaltung aus der Flirt-App in den normalen Messenger. Der Rest der Unterhaltung war belanglos, aber ich freute mich auf seinen Besuch. Ich hatte nur Angst davor, dass ich unsere Freundschaft auf eine harte Probe stellen würde, denn mir war nach mehr als nur nach kochen und reden.
Am Samstag fuhr ich morgens zuerst wieder zu Morten, und der Arzt – diesmal ein freundlicher junger Assistenzarzt – war überzeugt davon, dass Morten noch an demselben Tag, spätestens aber am Sonntag wieder aufwachen würde. Seine Genesung machte sehr gute Fortschritte, nur zwei kompliziertere Brüche müssten später noch operiert werden. Es war davon auszugehen, dass sein Hirn keinerlei Spätschäden davontragen würde. Ich war unglaublich erleichtert, fürchtete mich aber nun umso mehr vor meiner ersten Begegnung mit ihm, wenn er wach wurde.
Danach fuhr ich wieder nach Hause, widmete mich dem Staubsauger und der Bügelwäsche und versuchte danach noch ein bisschen zu lernen, was mir aber nicht gelingen wollte. Am späten Nachmittag fuhr ich erneut zu Morten und traf dort auf Ida und seine Eltern, die ebenfalls jeden Tag der Woche dort gewesen waren.
Alle drei waren sehr froh, mich zu sehen, aber ich war komplett verunsichert, weil ich nicht wusste, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Man betrachtete mich als gleichberechtigt oder sogar besonders wichtig für seine weitere Genesung, und das war mir sehr unangenehm, denn ich bezweifelte immer noch, dass ich ihm überhaupt noch irgendetwas geben konnte. Oder wollte. Ich fühlte mich wie eine miese Verräterin.
Während wir bei Morten waren, kam er tatsächlich kurz zu sich und blinzelte uns benommen an. Er schien ein Lächeln zu versuchen, und mir ging das so unglaublich nahe, dass ich beinahe losgeheult hätte. Aber gleichzeitig mit diesem unendlich großen Glücksgefühl überkam mich ein stechender Schmerz – die absolute Gewissheit, dass ich in dem Augenblick keine besonderen Gefühle für ihn empfand. Er war einfach nur jemand, mit dem ich vor langer, sehr langer Zeit zusammen gewesen war. Und der jetzt bestenfalls ein guter Kumpel war. Wenn überhaupt.
Und diese Erkenntnis – nur diese – sorgte dann doch dafür, dass ich anfing zu weinen. Kein Heulen oder Flennen, einfach nur ein lautloses, tröpfelndes Weinen aus den Augenwinkeln.
Ida schien das bemerkt zu haben, fasste meine Hand und flüsterte, so dass nur ich es hören konnte: „Ich bin auch sehr glücklich, dass er wieder wach ist.“
Ich konnte nichts darauf antworten. Die Wahrheit wäre zu furchtbar gewesen.
(Fortsetzung in Teil 4)