Sucht. Sehnsucht. Todessehnsucht.

Bitte die Triggerwarnung beachten!

In der ersten Aprilwoche standen am Montag und Dienstag meine beiden Klausuren für das Semester an. In beiden Nächten davor hatte ich so schlecht geschlafen wie seit Wochen nicht mehr, außerdem fühlte sich mein Kopf beim Aufstehen komplett leer an, was man sich vor einer Prüfung natürlich wünscht. Trotzdem fuhr ich an beiden Tagen in die Uni, setzte mich in die letzte Reihe und schrieb. Ich kann mich nicht mehr an Details erinnern, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich fast alles gewusst habe. Die Ergebnisse kommen irgendwann im Mai, ich lasse mich überraschen. Es ist mir eigentlich egal, das Semester hatte ich aufgrund meines Absturzes ohnehin schon komplett abgeschrieben.

Nach der zweiten Klausur fühlte ich mich wie erschlagen. Zu Hause fiel ich erschöpft ins Bett, nachdem ich es gerade noch geschafft hatte, meine Jacke und Schuhe auszuziehen und meine Tasche fallen zu lassen. Ich schlief sofort ein.

Mitten in der Nacht wachte ich auf und fühlte mich absolut nicht erholt. Mein Kopf dröhnte, als hätte jemand eine Bombe gezündet, ich fror, obwohl ich in meine warme große Decke gekuschelt war, und ich war unglaublich müde. Trotzdem konnte ich nicht wieder einschlafen, und kurz vor der Morgendämmerung quälte ich mich aus dem Bett. Ich tappte in die Küche und machte mir einen starken Kaffee, schlang die Wolldecke aus dem Wohnzimmer um meine Schultern und setzte mich in die kühle, klare Luft auf meiner großen Terrasse. Die Sonne kündigte ihren Aufgang an, die Vögel zwitscherten, die Stadt unter mir erwachte gähnend und grummelnd zum Leben.

Und ich saß einfach da, den heißen Kaffee in meinen klammen Fingern, starrte die Silhouette der Stadt an, die sich unter dem blassblaurosa Himmel abzeichnete, auf der Suche nach einem Sinn. Warum hatte ich mich durch die Klausuren gequält? Obwohl es nach einem Erfolg auszusehen schien: Was für einen Sinn macht ein Studium, wenn der Rest des Lebens so sinnlos erscheint? Warum hatte ich in den letzten Wochen mit wildfremden Männern gevögelt? Ja, sicher, Spaß, Abenteuer, ein gewisser Kick, Lustbefriedigung, das kalkulierte, aber leider nicht erzwingbare Risiko an einen Irren zu geraten, aber sonst? Warum bekam ich große Teile meines Lebens nicht in den Griff? Ich wollte Morten vergessen, aber das schien immer schwieriger zu werden, zumal ich überhaupt nicht verstehen konnte, warum er mit einer so furchtbaren Frau wie Isabella zusammen sein wollte. Niklas wäre auch toll gewesen, aber der hatte so viele Baustellen in seinem Leben, da wären wir beide eine Dauertherapiegruppe. Auch wenn die Mischung aus Leidenschaft, Trauer, Tränen und Sex ein einzigartiger Cocktail gewesen war.

Meine Gedanken kreisten immer schneller und gerieten immer mehr durcheinander, es war als wütete ein Tornado in meinem Kopf, der mit lautem Gebrüll ein totales Chaos und vollkommene Zerstörung anrichtete. Uni. Arbeit. Alkohol. Abgrund. Wünsche. Sehnsucht. Leidenschaft. Leiden. Schmerzen. Schläge. Sex. Morten. Ida. Sabrina. Julia. Eltern. Kinder. Blut. Tränen. Absturz. Aufprall. Tod. Ende.

Mein Kopf war leer. Nicht wie in meinem vertrauten Abgrund, sondern komplett leer. Dunkel. Schwarz. Stumm. Vakuum. Nichts. Absolut nichts.

Ich stand auf der Brüstung des Balkons und starrte in die Tiefe. Sechster Stock. 15, vielleicht 16 Meter. Unten der Bürgersteig und die Straße. Das sollte klappen. Leicht nach vorne kippen, mit den Armen Schwung holen, Rotation, den Kopf voran, Arme anlegen, Augen schließen, kein Risiko eingehen. Wie vom Zehner, das hatte ich schon hunderte Male gemacht, bei dieser Höhe eine gute Sekunde länger, dann wäre es vorbei. Wozu braucht man eine Brücke, wenn man alles zu Hause hat?

Ich atmete tief ein. Hatte ich noch etwas vergessen, irgendetwas zu erledigen, bevor ich sprang? Nein. Also.

Ich schloss die Augen, breitete die Arme aus und beugte mich vor. Dann verlor ich das Gleichgewicht und fiel. Mein Atem stockte, die Schwerelosigkeit setzte ein – und viel zu schnell durchzuckte mich ein heftiger Schmerz, der sich vom Rücken aus seinen Weg bahnte. Dunkelheit.

 

Ich blinzelte. Das Bild war unscharf, aber die Schmerzen konkret. Was für eine verdammte Scheiße! Ich war offensichtlich mit meiner Decke an der Halterung eines Blumenkastens hängen geblieben und war daher rücklings auf die Brüstung und von dort zurück auf den Balkon gestürzt. Ich lag zwischen dem massiven Tisch und den Töpfen mit den verdorrten Tulpen. Hätte ich nicht wenigstens mit dem Kopf auf die Ecke des Tisches knallen können? So ein Dreck!

Ich rappelte mich hoch, versuchte die Schmerzen zu ignorieren und überlegte kurz, ob ich erneut springen sollte. Aber ich war nicht mehr in der Stimmung. Die grelle Morgensonne blendete mich und ließ die Dächer der Stadt erstrahlen.

Ich schleppte mich ins Wohnzimmer, zog die Decke hinter mir her und die Vorhänge zu, warf im Bad zwei Ibu und eine Baldriantablette ein und ging wieder ins Bett. Scheiß auf die Sonne!

19 Gedanken zu “Sucht. Sehnsucht. Todessehnsucht.

  1. Hallo du Liebe, danke fürs teilen, das hast du sehr schön geschrieben. Aber natürlich absolut schmerzhaft und schlimm, was gerade alles in deinem Leben passiert und was du erlebst und fühlst. Falls du dich die Tage oder irgendwann ähnlich fühlst, kannst du dir vielleicht einmal dieses Video anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=lXi7vcnvl5c&t=407s . Mir hat es schon einige Male geholfen 🙂 Auch wenn nicht alles passt, vielleicht resoniert ja der ein oder andere Ansatz. Ich schicke dir Hoffnung und Leichtigkeit 🙂

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      1. Ach lass uns eher sagen eine schöne Blume 😉 und die ’sterben'(wie in meinem letzen Post) und blühen am Ende umso schöner und glücklicher… hoffen wirs zumindest
        🙂

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      2. Ja, das fand ich an deiner Geschichte so unglaublich faszinierend! Dagegen ist Phönix aus der Asche total langweilig 😉

        Ich bin vermutlich momentan eine Distel. Die blühen auch so schön rosa-violett (passend zu meiner aktuellen Haarfarbe) und sind sehr stachelig 😉

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      3. Ach danke, da werd ich ja ganz verlegen. Hab gerade Distel gegoogelt.. Sieht nach Aua aus – aber nichts desto trotz sehr schön 🙂 und Violett ist immerhin die Farbe der Heilung und der Transformation 😉

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      4. Disteln haben tolle Blüten, der Rest ist allerdings tatsächlich fies. Insofern passt das zu mir 😉 Meine Haarfarbe unterliegt dieses Jahr permanenter Transformation, insofern passt das ebenfalls 😉

        Ich freue mich schon jetzt auf deine nächste Geschichte, weil ich das Gefühl habe, dass die so … echt sind. Nicht nur Pappe und Plastik, sondern Herz und Leidenschaft 🙂

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      5. Dann fehlt ja jetzt nur noch die Heilung 😉
        Und vielen Dank, was für ein schönes Kompliment, das freut mich wirklich sehr dass du das so wahrnimmst 🙂 Ich freue mich tatsächlich auch immer auf deinen nächsten Eintrag, das ist wie ein spannendes Buch, und alle paar Tage darf mein endlich ein weiteres Kapitel lesen, abgesehen davon, dass du sowieso super schreibst! 🙂

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      6. Oh, jetzt werde ich tatsächlich ein bisschen rot, vielen Dank!

        Ich lasse mein Leben meine Geschichten schreiben, eigentlich mache ich das nur aus therapeutischen Gründen. Es freut mich, dass es dir gefällt 🙂

        Und ich hoffe natürlich, dass es immer wieder ein Happy End gibt 😉

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