„Läuft bei mir!“

Bitte die Triggerwarnung beachten!

„Bergab und rückwärts, aber läuft!“

Das stand auf einer Karte, die ich vor einigen Wochen in meinem Lieblings-Schreibwarenladen gesehen habe. Ich sollte das zu meinem Lebensmotto machen.

Wobei inzwischen vieles bergauf und vorwärts läuft, und darüber freue ich mich sehr. Ich habe vor kurzem wieder mit dem Laufen angefangen, und es ist nicht mehr nur eine Qual, sondern ich spüre, dass ich von Woche zu Woche besser werde, schneller werde, länger durchhalte und danach weniger erledigt bin. Momentan laufe ich zweimal pro Woche an festen Zeiten, egal wie das Wetter ist, ich muss einfach raus und mich bewegen. Beim ersten Mal – nach vier Monaten Zwangspause – war ich total erschüttert, wie sehr meine Fitness abgebaut hatte, aber inzwischen läuft es im wahrsten Sinne des Wortes weitgehend rund.

Außerdem mache ich regelmäßig verschiedene Workouts zu Hause, in erster Linie für meine Beweglichkeit. Man ahnt ja nicht, wie alt man sich fühlt, wenn man monatelang keinen Sport mehr machen konnte. Aber auch hier merke ich beinahe täglich, wie sehr mein Körper sich darüber freut, dass er sich wieder bewegen darf. Es ist wie mit dem Radfahren oder dem Schwimmen: man verlernt es nicht. Und so kommt die Agilität und Flexibilität beinahe von alleine wieder.

In dem Bereich geht es also vorwärts und bergauf.

Studium und Job waren komischerweise in der ganzen Absturzphase kein großes Problem. Ich war lange krankgeschrieben, aber als ich wieder halbwegs geradeaus gucken und denken konnte, war mein Gehirn offensichtlich heilfroh, sich wieder auf komplexe Fragen und schwierige Aufgaben zu stürzen. Gelegentlich verhält es sich zwar noch sehr instabil und emotional, aber erstens scheinen diese Ausfälle seltener zu werden, und zweitens habe ich wirklich tolle Menschen um mich, die mich auffangen oder zumindest Verständnis für meine Situation haben.

Klingt doch bis hier alles super, oder?

Aber Sport, Studium, Arbeit, Freunde und Familie sind nicht alles im Leben.

Jedenfalls nicht, wenn man 22 ist.

Mit Morten ist es vorbei, und ich muss mich permanent zwingen, nicht zu sehr an unsere kurze, aber intensive und einmalige Zeit zurück zu denken. Ich weiß, dass ich mit ihm den Mann meiner, nein, eigentlich den Mann aller Träume aus meinem Leben verstoßen habe. Doch ich bin, ganz objektiv betrachtet, der Meinung, dass diese Entscheidung richtig war. Ohne mich ist er deutlich besser dran, und ohne ihn bin ich … nicht mehr komplett, aber daran kann ich nur alleine arbeiten.

Ich muss erst wieder mit mir selbst zufrieden und glücklich sein, bevor ich mich in eine neue Beziehung stürzen kann, ohne die Befürchtung zu haben, meinen Partner emotional in den Abgrund zu reißen.

Doch mir fehlt nicht nur die emotionale Ebene, sondern auch die physische, wie Julia das vor ein paar Wochen so trefflich formuliert hat. In dieser Hinsicht bin ich besonders zerrissen, denn es gab schon früher eine Phase in meinem Leben, wo ich mich weniger auf die Emotionen und mehr auf das Körperliche gestürzt habe, was prinzipiell eine tolle (und vor allem eine unkomplizierte, abwechslungsreiche und bereichernde) Erfahrung gewesen ist, am Ende aber, wie hätte es auch anders sein können, zu einer emotionalen Katastrophe geführt hatte. Und damals war ich erst 17 …

Hinzu kommt mein … unerfreuliches Erlebnis vor ein paar Monaten, das der Auslöser für den Totalabsturz gewesen ist, aus dem ich mich immer noch zurück in die Normalität kämpfe.

Und so saß ich vor einigen Tagen abends mit meinen zweitbesten Freunden Rotwein und Netflix auf dem Sofa und badete meine geschundene Seele in Selbstmitleid. Und tat das, was man so tut wenn man alleine ist … nein, nicht das!

Man geht gedanklich die verfügbaren Alternativen durch.

Morten war nicht verfügbar. Ich könnte natürlich seine Freundin Ida anrufen und sie fragen, ob sie ihn für eine heiße Nacht zu mir schicken würde. Das wäre sicherlich sensationell … oder auch nicht. Allein meine eigene Reaktion auf diese Idee ließ mich für mindestens eine halbe Stunde emotional Achterbahn fahren. Ich schwankte zwischen tiefer, finsterer und eiskalter Trauer, herzzerreißender Verlustangst (die natürlich absurd war, weil ich ihn schon vor Monaten verloren hatte) und schmerzhafter Sehnsucht auf der einen Seite, und romantischen, atemberaubenden und körperlich … anregenden Erinnerungen sowie einem beinahe animalischen und archaischen Verlangen nach seiner Nähe auf der anderen Seite. Das Resultat waren Tränen und … Erschöpfung. Ich war gleichzeitig tieftraurig und unendlich glücklich.

Ich musste mich zwingen, meine Gedanken jemand anderem zuzuwenden. Nach zwei Gläsern Wein und zwei Dutzend Taschentüchern war ich emotional wieder halbwegs stabilisiert.

Wie wäre es mit meinem Schulfreund, dem ich Anfang des Jahres so leidenschaftlich in die Arme gefallen war? Der stand ebenfalls nicht zur Verfügung. Es war irritierend, dass ich ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte, obwohl er in meiner Uni rumlaufen müsste. Okay, das Gelände ist riesig und unübersichtlich, verfügbar war er trotzdem nicht. Auch wenn ich mir sehr gut vorstellen konnte, dass jegliche künftige Begegnung mit ihm das Potenzial für ein gewaltiges emotionales Feuerwerk bergen würde. Es würde vermutlich nicht sehr … traditionell, sondern mehr außerirdisch oder … holistisch, ganzheitlich, synästhetisch ablaufen. Und dann gleich wieder vorüber sein. Was in meiner jetzigen Situation vollkommen akzeptabel gewesen wäre. Aber er war halt weder verfügbar noch erreichbar.

Darauf einen großen Schluck Wein.

Und dann war da noch Rüdi. Natürlich! Darauf hätte ich auch gleich kommen können. Immerhin hatte er mir am Valentinstag eine Einladung zum Kaffee geschickt, was mehr war als alles andere, was mir in diesem Jahr angeboten worden war. Und Julia hatte so schön beiläufig erwähnt, dass sie mit ihm vor geraumer Zeit eine eher physische Affäre gehabt hatte, was für mich verlockend genug klang. Sollte ich mich mit ihm zum Kaffee treffen und dann aufs Ganze gehen? Würde ich damit klarkommen, falls er diesen Weg nicht mitgehen wollte? Und was, wenn ich entgegen aller Erwartungen doch mehr wollen würde als nur ein oder mehrere „physische“ Interaktionen? Ich sollte meine emotionale Instabilität nicht außer Acht lassen.

Und sie andererseits auch nicht überbewerten. Er war attraktiv, charmant, hatte auf der Party Interesse für mich bekundet, war ein talentierter Küsser und hatte mich danach – am Valentinstag! – zum Kaffee eingeladen. Ich müsste nur auf seine Nachricht antworten und im weiteren Verlauf sehen, wohin uns das brachte. Alles wäre besser als alleine auf dem Sofa zu sitzen, Rotwein zu trinken und mich selbst zu bemitleiden.

Ich leerte die Flasche, fing eine zweite an und überlegte angestrengt, was ich ihm schreiben sollte. Nicht zu reserviert, aber auch nicht zu aufdringlich. Ich hatte schon Lust auf ihn, wollte aber auch nicht, dass er mich für … nun ja, das hielt was ich im Moment war: unkontrolliert und bedingungslos scharf auf ihn. Zumindest physisch.

Meine Gedanken kreisten um ein angenehmes Thema, das Sofa war bequem, die Decke weich und warm, der Wein zeigte seine Wirkung, und so schlief ich mal wieder im Wohnzimmer ein. Gegen drei oder halb vier zog ich schlaftrunken in mein Bett um, stellte fest, dass die traute Zweisamkeit nur ein wohliger Traum gewesen war – aber dagegen würde ich gleich am nächsten Morgen etwas unternehmen! – und schlief tatsächlich ruhig und erholsam bis zum Weckton meines Handys. Ich muss erneut sehr inspirierende Träume gehabt haben, denn ich fühlte mich kribbelig und energiegeladen.

Nach einer ausgiebigen und erfrischenden Dusche und einem kräftigen schwarzen Kaffee – guatemaltekisch – wusste ich, was ich Rüdi schreiben würde:

„Ich liebe Kaffee – bei dir oder bei mir? :)“

Ich öffnete meinen Messenger und wollte beschwingt drauflos tippen, als, wie es manchmal so ist, genau in der Sekunde eine Nachricht von Julia kam:

[J 6:33] „Anna, ich muss dir etwas Tolles erzählen! Ich hoffe nur, dass es für dich okay ist :)“

Was mochte das sein, was so wichtig war, dass sie mir um diese Zeit eine Nachricht schrieb?

[A 6:33] „Na dann erzähl, ich bin neugierig – und habe auch eine witzige Geschichte!“

[J 6:33] „Ich hoffe wirklich, dass du nicht sauer wirst …“

[A 6:34] „Nun sag schon, sonst fange ich an!“

[J 6:34] „Du erinnerst dich doch noch an Rüdi, oder?“

Rüdi? Was für ein witziger Zufall, von ihm habe ich die halbe Nacht geträumt – FSK 18! Doch warum sollte ich wegen irgendwas mit Rüdi sauer … Oh.

[A 6:36] „Jaaa… Was ist mit ihm?“

[J 6:36] „Er war gestern Abend hier, und …“

Jetzt mach es nicht so spannend!

[A 6:36] „Und was?“

[J 6:37] „Er ist immer noch hier ;)“

Oh!

[A 6:39] „Oh!“

[J 6:39] „Oh ja! Aber ich weiß ja, dass ihr euch neulich … ganz gut verstanden habt. Daher … hoffe ich, dass das für dich okay ist?“

Okay? Das ist überhaupt nicht okay! Das ist doch totale Scheiße! Meine beste Freundin, die bestenfalls eine „physische“ Vergangenheit mit dem einzigen Typen hatte, der in diesem Jahr auch nur ansatzweise ein Interesse an mir bekundet hat, geht einfach so mit ihm ins Bett? So eine … Schlampe!

[A 6:43] „Ja, absolut okay … er war eh nicht so mein Typ.“

Mir kam noch ein Gedanke. Plan B. Oder C. Oder Z. Ich fügte schnell hinzu:

[A 6:43] „War es wieder eher … physisch? ;)“

Ich würde mich in diesem Fall trotzdem an ihn ranpirschen. Ich bin ja auch nur auf Physik aus!

[J 6:43] „Oh, schön, da bin ich erleichtert! – Ja, physisch war es auch, und wie! 😛 Aber wir haben beide das Gefühl, dass wir es diesmal ernsthaft miteinander versuchen wollen. Quasi next level. Juhu! :)“

Oh, verdammt! Ich fühlte, wie die süßen Träume der letzten Nacht sich blitzschnell in salzige Tränen verwandelten. Vermutlich ist so das Tote Meer entstanden. Oder das Streusalz. Aus geplatzten Träumen. Kleine, süße, bunt bemalte Beutel platzen plötzlich auf, und dann quillt eine saure, salzige, eitrige, klebrige, stinkende Substanz heraus, die einem den ganzen Tag versaut. Oder das Leben.

[A 6:45] „Wie schön, das freut mich für euch! :)“

Warum gibt es eigentlich keinen Kotz-Smiley?

[J 6:47] „Danke, Danke, Danke! – Und was wolltest du erzählen? Du hattest doch auch eine witzige Geschichte erlebt? :)“

Ach leck mich doch! Du hast alles kaputt gemacht, bevor es überhaupt losgehen konnte! Witzige Geschichte? Pfff!

[A 6:52] „Ich habe letzte Nacht zur Abwechslung tatsächlich etwas Schönes geträumt …“

[J 6:52] „Super! Ich hoffe mal, von deinem zukünftigen Traumprinzen :)“

Beinahe hätte ich ein neues iPhone gebraucht, aber es landete zum Glück weich. Ich war überrascht, dass ich es von der Küche quer über den Flur bis aufs Sofa werfen konnte.

4 Gedanken zu “„Läuft bei mir!“

  1. Läuft bei Dir! 😀 … Im Ernst, das ist wirklich ätzend. Vielleicht findest Du ja was anderes als das Telefon zum kaputt werfen? Ich hab das letztes Jahr gemacht und da ist dann irgendwie so teuer und man ist nicht mehr erreichbar. (Wobei es bei mir dazu geführt hat, dass ich der mobilen Smartphonewelt Abschwur geleistet habe. Auch nicht schlecht).
    Was kaputt machen kann jedenfalls gut tun. 🙂

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  2. Das hat eine Bekannte von mir in schwäbischem Dialekt oft gesagt, musste kurz grinsen, als ich es las.
    Ein bisschen wie Galgenhumor – aber ich mag das!

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